Der Bildermacher

by Claudia Seidel

Unter dem Titel Der Tod nimmt sich einen Tag nach dem anderen – Berliner Arbeiten 1997 – 2012 sind in diesen Tagen eine Auswahl von Photographien, Filmen und Projekten zu sehen, die Ralf Schmerberg, seit er vor 15 Jahren nach Berlin kam, realisiert hat und die teilweise zusammen mit dem von ihm 2008 gegründeten Künstlerkollektiv Mindpirates entstanden sind. Vor dem Hintergrund dieser Stadt hat der Photograph und Filmemacher sein privates visuelles Tagebuch, das er seit 1987 führt, in poetischen, humorvollen und bizarren Bildern fortgesetzt, die in ihrer zärtlichen Nähe und Unmittelbarkeit auch das Dunkle dieser Stadt Berlin vergessen lassen. Sein Tagebuch ist mit dieser Stadt angewachsen, die die Zeit so brutal vernichten kann, wie Saturn seine Kinder frisst, in der man dennoch dem Leben so viel Liebe widmen sollte: nicht nur weil sich der Tod sowieso einen Tag nach dem anderen nimmt, sondern weil auch in dieser Stadt mittlerweile oft genug zuerst das Fressen kommt und dann die Moral.

Womit bereits eines der zentralen Themen angesprochen ist, die Ralf Schmerberg, fließend tätig zwischen Kunst und Werbung, schon immer zu eindringlichen Bildern von Lebenswelten angetrieben haben, um den wechselvollen Zügen der Humanitas nachzuspüren, welche die Möglichkeiten und Beschränkungen des Menschseins grundsätzlich ausmachen. So erschien beispielsweise 2005 das Buch Dirty Dishes (1), welches mit knapp 200 hintereinander geschalteten Photos den Umgang mit Nahrung dokumentiert: auf Festessen und an Imbissbuden, in Hotels und Restaurants vormals fein säuberlich auch auf Silbertabletts arrangiert, stellt das Einzelbild, durchgängig in Nahsicht aufgenommen und penetrant ins Licht gesetzt, den vitalen Verzehr und die Lust am Essen letztlich als den achtlosen Umgang mit den verschmähten Resten von Mahlzeiten dar. Die Gesamtschau der Photos eröffnet das degoutante Sittengemälde einer globalen Gemeinschaft, die nicht nur mit Messer und Gabel zu essen versteht, sondern anscheinend mehr auf die Teller bekommt als ihr zuweilen gut tut.

Auf der Suche nach Antworten auf die wechselseitigen Abhängigkeiten in Ausmaß und Folge von Bedürfnissen, Ressourcen, Bedarf und Konsum verorten sich auch das von Ralf Schmerberg initiierte Großprojekt dropping knowledge, welches er im Kollektiv mit den Mindpirates ab 2008 weiter entwickelt bzw. umgesetzt hat. „dropping knowledge“, gegründet 2003, verfolgte über unterschiedliche Medienformate und Publikationswege sowie dem bisher größten Round Table der Welt, dem Table of Free Voices, der am 9. September 2006 auf dem Berliner Bebelplatz stattfand und mit 112 internationalen Teilnehmern prominent besetzt war, folgende übergeordnete Frage: „Who are we in the 21st century?“(2).

Wer wir im 21. Jahrhundert sind verknüpfte dropping knowledge unmittelbar mit einer zweiten Interrogation, nämlich jener: „Can asking questions change the world?“. Dieser Aufruf nach dem Sinn und Zweck des Fragenstellens war getragen vom überzeugenden Konsens, dass es nichts besseres als Fragen gibt, um Dialoge zu eröffnen, welche in der Lage sind, konventionelles Denken zu durchbrechen. Man könnte meinen, diese Praxis sei eine schlichte Selbstverständlichkeit. Doch macht das Projekt deutlich, dass bereits Zensur mit der Entscheidung stattfindet, wer gehört wird und welche Frage überhaupt in die Öffentlichkeit dringt. In dropping knowledge stellt sich das Weltparlament der Fragenden als Allegorie einer notwendig zu praktizierenden Sozialität dar, die sich nur stetig zwischen Realität und Utopie schwankend manifestieren kann: Realität, weil ein Tisch freier Stimmen schon allein insgesamt 11.200 Antworten gegeben hat oder die Internetseite www.droppingknowledge.org auch weiterhin Fragen sammelt und veröffentlicht. Utopie, da nicht abzusehen ist, ob und, nur in der Vorrausetzung eines ‚Ja’, wann tatsächlich solche Antworten gegeben werden, die nicht nur Absichtserklärungen bleiben, sondern zu Taten führen, die die Spezies Mensch auch das 21. Jahrhundert überleben lässt.

Der 100-minütige und jüngst aus dem Projekt dropping knowledge destillierte Spielfilm Problema (2010), prägt nun die inszenierte Überblendung von dokumentarischen Auszügen des Table of Free Voices mit Sequenzen aus historischen Filmdokumenten sowie von Tier- und Landschaftsaufnahmen, nächtlich glitzernden Megastädten, rauschendem Verkehr, ergänzt um die Einbettung von Artefakten als Stills sowie Menschen in allen möglichen bewegten Kontexten rund um den Globus. Wie diese hochästhetische und überbordende Bilderflut letztlich das babylonische Dilemma des Menschseins zur machtvollen Aussage bringt, kann zunächst aufgrund ihrer grandiosen Opulenz und symbolischer Aufladung zunächst sicherlich auch überreizen. Doch inspiriert im Nachhall Problema mit seinem Erregungspotenzial genauso, sich selbst Fragen nach seinem eigenem Wertehorizont zu stellen. (3).

Wie umstritten Schmerbergs filmische Umsetzungen für die Werbung globaler Marken andererseits wirken, indem seine ästhetischen Bildwelten mitten ins Herz der kulturellen Identität und Werte Einzelner und Gruppen treffen können, spielte sich beispielhaft vor dem Hintergrund eines Clips für Levi’s ab (4). Der im Jahr 2011 produzierte Film Legacy vermittelt in coolen Bildern das Versprechen einer Jugend, deren Lebensgefühl sich aus der Summe romantischer Augenblicke, unerschrockener und unbegrenzt freier Entfaltung ergibt – und macht auch nicht davor Halt, Szenen dissidenter Aktionen einzubinden. Atmosphärisch reihen sich ekstatische Momente, verliebte Blicke, leidenschaftliche Hingabe emphatische Pose, Stimmungen von Begehren, Sehnsucht, Aufbruch und Protest, das suggerierte Erlebnis von Erfüllung und Rebellion nahtlos aneinander, um untermalt mit Charles Bukowskis Gedicht The Laughing Heart auf das Branding „Go Forth/Levi’s“ hinzuführen.

Im zeitlichen Kontext des beabsichtigten Release des Clips hatten nun die extrem gewalttätigen Ausschreitungen in London, Manchester und Birmingham stattgefunden, so dass Levi’s entschied, die Erstfassung von Legacy aufgrund der Bilder jugendlicher Demonstranten, speziell eines mit erhobenen Armen auf eine massive Polizeikette zugehenden, in Jeans und Lederjacke gekleideten jungen Mannes, in England nicht zu senden. Denn in Amerika sorgte diese Fassung, nach ihrer Ausstrahlung während der Werbepause eines Footballspiels, für helle Aufregung. Im Vordergrund stand neben den moralisierenden Einlassungen zur werblichen Ausbeutung der High Culture, was sich auf die Verwendung von Bukowskis Gedicht als sonor gesprochener Copytext des Clips bezog, vor allem bei Vertretern der amerikanischen Konservativen die Furcht vor erodierenden Werten (Verherrlichung von Gewalt), drohender Entfremdung oder gar der Verlust der kulturellen Heimat (5).

Anders lässt es sich zumindest nicht erklären, dass Glenn Beck, einer der vielgehörten und gesehenen Moderatoren des Landes, in seiner Talkshow den Monolog zur Verteidigung seines Amerikas – eine Jeans der Marke mit erhobenem Arm gleich einer Flagge ins Publikum wedelnd – mit schillernder Rhetorik begann: „Is there more American than Levi’s?“ (6). Becks Polemik endete auf geradezu groteske Weise mit der Forderung nach Normalität in Leben und Nation: Er sei kein Aktivist, er wolle sein normales Leben und einfach wieder sein Land zurück. Glenn Beck, Sympathisant der Tea Party und in klarem Einverständnis mit den Ansichten der National Rifle Association sowie laut der britischen Art Review 2009 auch einer der 100 einflussreichsten Figuren der Kunstwelt, hatte in seinem Auftritt damit nicht Flagge und Nation sondern zunächst Marke und Nation bewusst kurzgeschlossen, um schließlich die Verheißung einer Nation zur Diffamierung der Marke zu benutzen. Der Moderator hatte in seiner Sendung mit den Waffen der Werbung in Wort und Gestus zurückgeschossen, sich ihrer realitätsverkürzenden, manipulativen Strategien bedient, und damit die Option der intellektuellen Distanzierung zur differenzierten Analyse eines Themas nicht wahrgenommen.

Kommt es aufgrund solch geistiger Verknappung, die sich nicht nur in den USA, sondern vielerorts und in einer Vielzahl von privaten Medien sowie Gremien der öffentlich-rechtlichen Institutionen immer häufiger abbildet, gerade auch deswegen zu einer schleichenden Annullierung einer schon immer recht komplexen und damit nur mühsam zu fassenden Realität? Schwächen wir uns auch deshalb immer mehr und führen uns geradezu willentlich in die regressive Lage, die Macht der existierenden kapitalistischen Ordnung, wie es der Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich in seinem Buch „Wohlstandsphänomene“ diskutiert, besser nicht zu reflektieren, um statt dessen viel lieber, von dieser Bürde entlastet, hinzunehmen, dass er sich immer breiter repräsentiert und ästhetisiert? Ullrichs Argumentation, dass „je mehr sich Staaten in Marken verwandeln und Marken an Stellenwert gewinnen, desto mehr ist auch eine Entpolitisierung der öffentlichen Diskurse zu beobachten ist“ (7), bringt das Unbehagen auf den Punkt, dessen sich auch Ralf Schmerberg mit seinen Arbeiten zu stellen unternimmt. Seine Methode legt er in der Ausstellung offen zur Betrachtung, als Akteur innerhalb und in Opposition zu Systemen merkantiler Natur.

Neben knapp 30 Filmen zeigt die atelierbezogene Retrospektive Schmerbergs auch eine Auswahl von über 100 Photographien in Salonhängung, die trotz ihrer schieren Menge und der vielfältigen Sujets nicht wahllos auf den Betrachter wirken. Dies liegt daran, dass das subjektive Interesse des Photographen für die Welt um ihn nicht allein der bloßen Sehnsucht folgt, mit einem Photo das sichtbare Zeugnis abzuliefern, das sagt: „Seht her, auch ich war dort“. Vielmehr liegt in den Photografien immer wieder das überraschend Offene, zu sehen, was überhaupt alles da ist, was gesehen werden, wie es wahrgenommen werden kann und warum es festgehalten werden muss – das, was doch alles an sich so leicht zu übersehen wäre, weil es für sich überhaupt keinen Denkmalcharakter besitzt. Da sind unter anderem: Ein Schwan, der sich aus schattigen Gewässern in großer Nähe friedlich und in Anmut der Kamera präsentiert (Besuch am Abend, 2010). Gelbliche Gebeine mit schwarzen Krallen, lange Federn und blutige Klümpchen eingebettet in das frische Grün von Gras (Vogel, 2012). Rotglänzende nackte Leiber von Frauen und Männern vereint in nächtlich rätselhaftem Rave (Ode an die Freude, 2001). Die Atelierszene einer Gruppe geschminkter und in schwarzweiße Kleidung arrangierter Gestalten, die ihr Vorbild im barocken niederländischen Gruppenbildnis zu haben scheint (RambaZamba, 2001). Das aufgerissene, lückenhafte Milchzahngebiss in extremer Nahsicht als pars pro toto einer nicht ewig andauernden Kindheit (Prenzlauer Berg, 2007). Etc.

„Da die Photographie reine Kontingenz ist und nur dies sein kann (…), so liefert sie auf der Stelle jene Details, die das Ausgangsmaterial des ethnologischen Wissens bilden“, schreibt Roland Barthes in Die helle Kammer und setzt anhand einer Fotografie William Kleins fort, „eine ethnographische Frage: wie lang lies man in dieser oder jener Epoche die Nägel wachsen? Dies kann die Photographie mir sagen, viel besser, als die gemalten Porträts es können (…): denn es gibt da ein ‚Ich’, welches das Wissen liebt und daran eine Art von verliebtem Gefallen findet. In eben dieser Weise liebe ich bestimmte biographische Züge in der Vita eines Schriftstellers, die mich ebenso fesseln wie bestimmte Photographien; ich nannte diese Züge ‚Biographeme’; die Photographie steht im gleichen Verhältnis zur Geschichte wie das Biographem zur Biographie“ (8).

In Anlehnung an die Worte Roland Barthes geht es auch in der Photographie und den Filmen Ralf Schmerbergs darum, unserer Zeit (also unserer Geschichte) angstfrei jene unverstellten Facetten zu verleihen, so dass prinzipiell jedem Menschen eine Biographie zugestanden werden kann, weil vielleicht sein Leben Besonderheiten besitzt, die über das Eigene hinausführen und dann für uns wirksam werden. Nämlich als die Möglichkeit einer Teilhabe und Gemeinschaft, was man auch als das Wesen der Kultur bezeichnen kann.

(1) Ralf Schmerberg, Dirty Dishes. In Zusammenarbeit mit Friederike Schinagl und Texten von Kurt Weidemann und Matthias Harder, Hatje Cantz Verlag, Stuttgart 2005.

(2) Das Projekt dropping knowledge wurde parallel zu seiner Website und dem Table of Free Voices von einer Anzeigenkampagne sowie durch Zeitungsveröffentlichungen begleitet.

(3) Problema, 2010, 95 min, HD, color, 1.85 : 1 Produktion: Mindpirates, free download under: http://problema-thefilm.org/film

(4) Unter http://youtu.be/1TzNPq1fg44 ist die ursprüngliche Fassung von Legacy, unter http://youtu.be/yVisTfbVSFE ist die um die umstrittenen Bilder bereinigte US-Fassung nachzuvollziehen.

(5) Vgl.: www.forbes.com/sites/matthewnewton/2011/08/10/levis-latest-go-forth-ad-romanticizes-youth-riots-at-the-wrong-time.

(6) Vgl. der Auszug aus Glenn Becks Talkshow: http://youtu.be/MO8lJSTpCGQ.

(7) Wolfgang Ullrich, Wohlstandsphänomene, eine Beispielsammlung. Aus der Reihe Fundus Bücher die Nummer 182, Philo Fine Arts, Hamburg 2010, zitiert aus dem Essay Topografie der Marken, S. 228.

(8) Roland Barthes, Die helle Kammer. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main, 1985/2009, S. 38.